Donnerstag, 27. September 2012

Das Herbstmädchen


Im Wald. Es ist Herbst. Die goldenen Blätter fallen und der Geruch von Melancholie liegt in der Luft. Der Ruf des Windes weht durch die Blätter hindurch. Vorhin hat es geregnet. Die Erde unter den Füssen ist noch feucht. Zwei Kinder tauchen auf. Barfuss, als würde ihnen die Kälte nichts ausmachen. Hand in Hand laufen sie zum Fluss und beobachten die Fische, die darin schwimmen. Sehen Rehe, die sich vor ihnen verstecken und Vögel, die überall umherflogen. Sie lachen und laufen Hand in Hand weiter durch den Wald. Das Rascheln der Blätter ergibt ein langsames schönes Lied. Im Laufe des Liedes werden sie grösser und älter. Sie laufen immer noch Hand in Hand durch den Wald. Als beide mitten im  Leben stehen, entdeckt sie ein grünes Blatt. Es ist anders. Kein Herbstblatt. Sein Grün ist satt und frisch wie der Frühling. Herbst und Frühling sind ganz andere Welten, denkt das Mädchen. Sie nimmt das Blatt vom Boden und überreicht es ihm. Als Geschenk, als Zeichen dafür, dass der Junge neben ihr anders ist als alle anderen. Er ist besonders. Doch grinsend reisst er ihr das Blatt aus der Hand und wirft es weg. Einfach wegwerfen, als wäre das Blatt doch nicht anders. Das Mädchen ist verletzt, zeigt es aber nicht. Es lacht einfach und sie laufen weiter.  Je tiefer sie in den Wald gehen, desto mehr Blätter verlieren die Bäume, bis alle nur noch nackt und stumpf sind. Plötzlich bleibt der Junge stehen, blickt zu ihren Füssen und meint: „Es wird Zeit, unsere Schuhe zu holen. Sonst erfrieren unsere Füsse“ Er lässt ihre Hand los und läuft den Lebensweg zurück durch den Wald.
Sie wartet unter einem Baum. Dieser Baum ist noch frisch, genauso wie das Blatt, welches sie vor Jahren gefunden hat. Dieser Baum hat keine Blätter verloren. Er ist gross und prächtig und bittet ihr Schutz vom neuen Regen, welcher über ihr gegossen wird. Sie setzt sich hin und fängt an zu singen. Die Zeit hält still, weil sie ohne den Jungen nicht tiefer in den Wald gehen kann. Ihre Stimme tingelt durch die Bäume hindurch. Obwohl die Zeit nicht vergehen kann, scheint sie innerlich älter zu werden. Sie fühlt sich schwach, energielos, alt. Die Stille umhüllt sie, als sie aufhört zu singen. Die Melodie ist aus ihrem Leben fortgegangen. Den Rhythmus hat sie verloren. Die Freude verblasst, genauso wie die Wärme in ihrem Herzen, welche sie sonst immer gespürt hat.
Die Frau weint. Eine eiskalte Träne fällt zum Boden. Schweigsam lässt sie die einzelnen Tränen fallen, denn was würde sich ändern, wenn sie die Tränen wegwischen würde?
Plötzlich kommt der Wind und sie fühlt etwas an ihrem Nacken. Mir ihrer Hand tastet sie danach und sieht es sich an. Es ist das grüne Frühlingsblatt. Das Blatt der Frische. Das Blatt, welches ein Zeichen für den Neuanfang ist. Sie versteht, lächelt und wischt sich damit die Tränen aus dem Gesicht. Das Frühlingsblatt wird zur Rose.  Rot wie ihr Blut, welches durch ihre Venen laufen. Sie weiss und versteht. Die Zeit lief auch, als der Mann wegging. Die Zeit läuft noch. Die Zeit wird weiterlaufen. Sie hat ihre Kräfte nicht verloren. Sie sind immer noch irgendwo versteckt in ihrem Körper. Die Melodie liegt noch auf ihre Zunge, ihre Schritte enthält noch den Rhythmus. Die Freude ist zurückgekehrt und sie spürt die Wärme in ihrem Herzen. Ein gutes Gefühl. Gut, genau wie sie. Sie nimmt die Rose mit Stolz zu sich, steht auf und läuft weiter. Tiefer in den Wald, während der erste Schnee vom Himmel fällt.

- Averiyà Curolox